Skábma - Das Nanobot-Experiment

Mein Lapplandthriller Skábma
mit dezenten SF-Elementen

 

Hier der Klappentext und die Buchinfos:

Der Klimawandel hat den Norden Europas entvölkert. In Jokkmokk, einer der wenigen bewohnten Enklaven, soll die Stockholmer Kommissarin Selma Fredriksson einen Mord aufklären. Der samische Polizist Aslak Järvi unterstützt sie dabei, ohne zu ahnen, dass Selma ganz andere Ziele verfolgt. In der kargen Tundra des Sarek kommen die Beiden einem Verbrecher auf die Spur, der mittels Nanotechnologie das Handeln von Menschen kontrollieren will. Sie wissen nicht, dass Selma längst mit den Nanobots infiziert ist, bis sie in der menschenleeren Weite ihre Waffe gegen Aslak richtet ...
"Diese Art Romane versuche ich auch immer zu schreiben."
- Andreas Eschbach -


Skábma - Das Nanobot-Experiment
SF-Lapplandthriller
Edition Roter Drache, April 2023
Taschenbuch, 452 Seiten, 17,00 Euro
ISBN 978-3-9681-5061-1

Nachwort zum Buch

Einer meiner Erstleser war der Bestsellerautor Andreas Eschbach. Er hatte in seinem Kommentar zu meinem Manuskript sehr gut den Kern der Story erfasst: »Zuerst habe ich mich gefragt: Nanotechnik und Lappland, wie passt denn das zusammen? Aber nach und nach dämmerte mir, dass beides – die Beeinflussungstechnologie durch Nanobots wie auch die Situation der Samen – einander spiegeln: Bei beidem geht es um den Verlust der Freiheit, den Verlust der Möglichkeit, über sich und sein Leben bestimmen zu können. Zudem ist die ganze Handlung, die in Lappland spielt, sehr plastisch und sehr interessant zu lesen; man ist drin, und auch die Figuren hat man lebendig vor Augen, fühlt mit ihnen mit und will wissen, was aus ihnen wird. Dass das Ganze in der Zukunft spielt, wird unaufdringlich klar. … Ein Science-Fiction-Roman, den auch Leute lesen können, die eigentlich keine Science-Fiction-Romane mögen; die Art Romane versuche ich ja auch immer zu schreiben.«

Tatsächlich gibt es jetzt schon Nanobots, die Tumorzellen im Gehirn bekämpfen. Ebenso gibt es die Mensch-Maschinen-Schnittstellen zum Steuern von Prothesen oder Rollstühlen. Die Kombination beider Technologien zur Manipulation von Menschen habe ich mir allerdings nur ausgedacht und hoffe, dass dies Science-Fiction bleibt.

Doch es ging mir nicht nur darum, einen spannenden Thrillerplot um eine futuristische Technologie zu verfassen, sondern besonders das Setting in Lappland lag mir am Herzen. In den letzten 35 Jahren habe ich zahlreiche Reisen durch Skandinavien unternommen und besonders den kargen, wilden Norden lieben gelernt.

Wir vergessen oft, dass im Norden Europas ein indigenes Volk lebt, das keinen eigenen Staat hat, sondern in dessen Lebensraum sich die Länder Norwegen, Schweden, Finnland und Russland im Laufe der Jahrhunderte ausgebreitet haben. Die Sámi haben diese Kolonisierung gewaltlos hingenommen und sich mit jeder neuen Zeit arrangiert. Trotzdem haben sie ein Bestreben, ihre Kultur zu erhalten und weiterzuleben, indem sie sie mit den Errungenschaften der modernen Zeit kombinieren. Noch immer leben viele von ihnen von der Rentierzucht und sind auf eine intakte nordische Umwelt angewiesen, da die Tiere das ganze Jahr über frei in der Tundra umherziehen. Die Natur und somit ihre Lebensgrundlage sind jedoch gefährdet.

Die Figuren in meiner Story beschäftigen sich auf ganz unterschiedliche Art mit den Veränderungen. Ich möchte betonen, dass sie frei erfunden sind und keinen lebenden Personen nachempfunden. Und natürlich gibt es keine sámische Terrororganisation. Einige Aspekte, wie die momentan noch nicht in Betrieb genommene Erzgrube Kallak (Gállok) sowie die damit zusammenhängenden Proteste, Tagebrüche oder Windparks entsprechen jedoch den aktuellen Entwicklungen im Norden.

Um für den Lesenden ein Feeling für die sámische Kultur und für die wunderschöne nordische Landschaft zu erschaffen, habe ich Begriffe und Sätze aus dem Sámischen eingewoben und die Hauptkapitel nach den acht Jahreszeiten der Sámi benannt. Da meine Story in naher Zukunft im Gebiet um Jokkmokk spielt, entstammen diese Wörter dem dort gesprochenen lulesámischen Dialekt: Zum Beispiel lautet das lulesámische Wort, das die Polarnacht bezeichnet, Sjievnnjisájgge. Für den Titel des Buches bot sich jedoch das bekanntere und einprägsamer nordsámischen Äquivalent an: Skábma.

Andreas Eschbach habe ich zu, ersten Mal 2015 auf dem WetzKon in Wetzlar kennengelernt

Leseprobe

Prolog

 

Drei Düsenjets mit sechs Begleitdrohnen rasten in Dreiecksformation unter den rosa Wolken der Abenddämmerung hindurch über den alten Mann hinweg. Er folgte ihrer Bahn mit den Augen. Die metallischen Leiber blitzten in einem Lichtstrahl der schon nahe dem Horizont stehenden Sonne auf. Das vorderste Flugzeug vollführte ein Rollmanöver, flog eine Zeit lang in Rückenlage und brachte sich zurück in Position. Allmählich verhallte der Donner der Triebwerke im breiten Tal des Rapaätno. Wie eine wärmende Decke legte sich die Stille über die Tundra des Sarek – der riesigen kargen Gebirgslandschaft im Norden Schwedens. Nur das Rauschen des nahen Flusses bildete eine melodische Hintergrundmusik.

Ein Elch stakste durch den Sumpf am Ufer. Er senkte den Kopf, um in den wassergetränkten Wiesen zu weiden. Manchmal verschwand sein ganzes Haupt unter der Oberfläche eines Tümpels. Sein prächtiges Schaufelgeweih zeigte, dass er auf dem Höhepunkt seines Lebens stand.

Der alte Mann stützte sich auf einen Stock und sah dem Tier lächelnd zu. Aus seiner blauen Mütze mit roter Borte lugten ein paar graue Haare hervor. Seine Augen glänzten aus einem zerfurchten Gesicht. Es zeugte von einem harten Leben in einer kargen Landschaft. Sonne und Wind sowie Freude und Sorgen hatten ihre Spuren auf ihm hinterlassen, so wie Wasser und Eis in die Findlinge der Umgebung Risse, Furchen und Falten gegraben hatten. Genauso wie jene Steinblöcke war er ein Relikt aus vergangenen Tagen, einer der Wenigen, die an der alten Lebensweise festhielten. Er empfand sich als ein Nåjde, ein Mittler zur Geisterwelt. Hier konnte er mit den Geistern sprechen an diesem Stein, seinem Seid, seinem Heiligtum. Dafür legte er eine Rindenschale gefüllt mit Moltebeeren in eine vom Regen geformte Höhlung und lauschte der Natur, dem Wind, der durch die niedrige Vegetation pfiff.

Und dann hörte er noch etwas anderes. Ein fernes Dröhnen kündigte Unheil an. Am Horizont gewahrte er einen schwarzen Schatten; erst klein und unwirklich, doch bald kam er geräuschvoll näher. Er war ein Helikopter, der im Tiefflug über die sumpfige Ebene des Flusstals heranflog, niedriger als die schneebedeckten Gipfel ringsum. Der Alte zog es vor, sich hinter den mächtigen Felsblöcken zu verbergen und aus dem Versteck heraus zu beobachten.

Wie ein Raubvogel auf der Suche nach Beute kreiste der Hubschrauber über der sumpfigen Landschaft. Und endlich schien er sein Opfer ausgemacht zu haben. Zielstrebig kam er näher. Der Elch blickte nervös der schwarzen stählernen Libelle entgegen. Seine Flanken erzitterten und er sprang ein Stück zur Seite. Dann blieb er stehen und sah der Gefahr ins Auge.

Plötzlich krachte es wie der Donnerschlag eines Novembergewitters. Das Tier zuckte zusammen und ergriff mit weit ausholenden Läufen die Flucht. Der Stahlvogel folgte in Jagdgier. Der Elch blickte sich nicht mehr um, sondern hetzte in wilder Panik davon, dem Tal nach Nordwesten folgend. Seine Hufe versanken immer wieder in den Sumpftümpeln und es kostete ihn viel Kraft, sich daraus freizukämpfen.

Der zweiblättrige Rotor schnitt einen transparenten Kreis in die Luft und verursachte ein pulsierendes Wummern. Um dem Tier den Weg abzuschneiden, flog der Helikopter eine Schleife. Dabei neigte er sich zur Seite und beschrieb einen Bogen um eine unsichtbare Achse.

Ein dunkles Etwas fiel aus der offenen Seitentür und landete unsanft auf dem Tundraboden. Der alte Mann zog den Kopf erschrocken hinter den Felsblock zurück. Hatte er gerade einen menschlich klingenden Schrei gehört? Das Dröhnen der Triebwerke und Rotoren schallte übermächtig und konnte ihm diesen auch bloß vorgegaukelt haben. Verunsichert presste er sich gegen den nach Moos riechenden Findling. Ängstlich lugte er um den Stein und riskierte einen Blick auf das Geschehen.

Der schwarze Hubschrauber ließ gerade von dem Elch ab und umkreiste eine Stelle am Ufer eines Seitenarms des großen Flusses. Es war eine bauchige alte Maschine aus einer Zeit, wo Liebe und Tod, Blumenketten und Sturmgewehre Hand in Hand zum Klang von E-Gitarren und Napalmbomben tanzten. Das war lange her, vor einem Dreivierteljahrhundert, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Der Huey ging herunter und hielt sich im Schwebeflug knapp einen Meter über dem Boden. Jemand sprang heraus und untersuchte etwas. Dann wurde die Person zurück in das Fluggerät gezogen.

Der Alte hinter dem Findling beobachtete, wie die Maschine steil nach oben stieg und gen Süden aus seinem Blickfeld verschwand. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals. Von dem Elch fehlte nun jede Spur. Stille senkte sich wieder über das Flusstal. Ein paar Vögel stritten sich im Gestrüpp und die letzten Mücken des Jahres summten um seinen Kopf.

Vorsichtig stapfte er Richtung Ufer. Seine traditionellen Schuhe aus Rentierfell mit den hochgebogenen Spitzen hinterließen kaum Spuren im weichen Grund. Er blieb vor der blutüberströmten Leiche stehen und zog mit zitternden Fingern sein antiquarisches Mobiltelefon aus der Jacke. Das Gerät konnte keine Verbindung zu einem Netz herstellen. Also machte er sich auf den Rückweg. Am westlichen Horizont ging der Vollmond hinter eisigen Graten auf. Er wirkte übernatürlich groß und seine Krater traten deutlich sichtbar hervor.
 

Gidágiesse

 

Frühlingssommer

 

Im Juni schmilzt der Schnee endlich
und der Sommer hält langsam Einzug in
Sápmi – dem Land der Sámi.
Die Siida – die Sippe – bricht zu den Sommerweiden auf,
da nun die jungen Rentiere Schritt halten können.
Mückenschwärme umschwirren den Treck,
der aus Menschen und Rens besteht.
Die Kolonne verlässt die Tundra
und sucht sich ihren Weg durch Schluchten und Furten 
sowie über Pässe durch das Gebirge in die Hochebenen.


 

 

1

 

Einige Tage vorher und mehrere hundert Kilometer südlich in Stockholm, machte sich ein mikroskopisch kleines Objekt auf den Weg von einer Injektionsnadel durch die Armvene in den Blutkreislauf eines jungen Mannes. Es hatte die Form eines Spinnentieres, allerdings im Gegensatz dazu nur sechs beinartige Fortsätze. Der Körper war rund und ein wenig länglich – fast wie ein gestauchter Torpedo. Trotz seiner Winzigkeit war es mit Technik vollgestopft, die ihm eine autonome Energieversorgung durch die Umgebungswärme in seinem Wirtskörper ermöglichte, sowie Fortbewegung, Andockmanöver und weitere Handlungen. Es konnte Signale empfangen und diese in Aktionen umsetzen.

Zunächst folgte es jedoch dem Blutstrom. Rote Blutkörperchen zogen wie große, mittig eingedrückte Tellerlinsen an ihm vorbei. Zwei kugelartige weiße Zellen mit unzähligen kleinen wurmartigen Fortsätzen kamen zielstrebig näher, umkreisten das fremde Objekt und versuchten offenbar, seine Struktur zu analysieren. Bei ihnen handelte es sich um Lymphozyten – weiße Blutzellen –, die Verteidigungsarmee des Körpers. Unbekannte Eindringlinge wie Fremdstoffe, Bakterien, Viren, Tumorzellen vernichteten sie erbarmungslos. Doch das Verteidigungssystem konnte durchbrochen werden. Durch die Ummantelung mit Lipoprotein wurde es nicht als fremd erkannt. Schließlich entschieden die Lymphozyten, dass es eine körpereigene Zelle war, und verschwanden wieder im Fluss der roten Blutkörperchen. Wie ein Wolf im Schafspelz setzte der Eindringling unbeirrt seinen Weg fort.

Und so gelang es der winzigen Apparatur sogar, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Die Kapillaren im Gehirn waren zwar so aufgebaut, dass sie nicht von Zellen ab einer bestimmten Größe durchdrungen werden konnten, doch der Tarnkappenmechanismus des Objekts gepaart mit seinen geringen Abmessungen machte diese Barriere für es unwirksam. Es folgte dem Weg des limbischen Systems bis zur Amygdala, dem Ausgangspunkt bestimmter Gefühle, wie Wut und Aggression. Dort dockte es an einer Zelle an und wartete auf seinen Einsatz. Es blieb nicht allein. Viele weitere identische Objekte reihten sich an und nahmen in unmittelbarer Nähe ihre Plätze ein. Es waren Nanobots, winzige Roboter, die jeden Befehl ausführten, der in ihnen programmiert worden war.

Der Nanobot BOT_XrV-N konnte weder sehen noch hören. Doch hätte er hören können, wäre er Zeuge folgenden Gesprächs geworden: »Rodebrand«, schallte die Stimme seines Wirtskörpers. »Ihre Aufputschdroge verursacht Kopfschmerzen.«

»Das geht vorüber, Nils. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wissen ja. Es ist ein unbedenklicher Test eines harmlosen Mittels.«

»Harmlos – das rate ich Ihnen auch.«

»Keine Panik. Denken Sie einfach daran, dass ich Ihnen im Gegenzug bei Ihren Aktivitäten behilflich sein werde.«

BOT_XrV-N empfing ein Signal. Sofort begann er elektrische Impulse an die Zelle zu senden, an der er angedockt hatte. Die Zelle registrierte diese Reize und interpretierte sie im Zusammenhang mit den Informationen aus Seh- und Hörnerv als Gefahr. Nun musste Sie sich zwischen den Reaktionen Panik oder Wut entscheiden. Dabei griff sie auf erlernte und erlebte Strukturen in der Vergangenheit zurück und entschloss sich schließlich für Letzteres. Nachdem sie diese Nachricht weitergegeben hatte, schüttete das Nebennierenmark in Bruchteilen von Sekunden Adrenalin aus.

»Ich hoffe, dass ich keinen Hirntumor davontrage. Sonst werden Sie das auch nicht überleben!«

»Da kann ich Sie beruhigen, Nils. Ganz im Gegenteil. Das Zeug schützt Sie sogar davor.«

»Ich trau Ihnen nicht, Rodebrand!«

»Nicht so misstrauisch.«

»Was soll das Begrapschen?«

»Nur ein Haar.«

»Was?«

»Sie hatten ein Haar auf der Schulter. Man sollte seine Haare nicht irgendwo unkontrolliert liegen lassen.«

»Sie sind ein Spinner. Wie ich schon sagte, ich trau Ihnen nicht.«

Papier raschelte.

»Das ist okay, Nils ... Kennen Sie diese Frau hier?«

Ein Knall schallte durch den Raum. Der biologische Wirt des torpedoförmigen Nanobots BOT_XrV-N hatte mit der Faust auf die Tischplatte geschlagen.

»Sicher kenne ich das Schwein! Das ist Malmberget. Sie verschandelt mit ihrer Bergbau- und Energiepolitik unser Land. Mein Volk wird immer mehr unterdrückt und seiner natürlichen Lebensgrundlage beraubt. Ich ...«

»Da haben Sie recht. Jemand sollte ihr das Handwerk legen.«

»Allerdings! Wenn ich sie in die Finger bekommen könnte, dann ...«

»Vielleicht wüsste ich da eine Möglichkeit ... Wir treffen uns morgen Abend im Den Gyldene Freden. Dann besprechen wir alles Weitere.«

»Ich werde da sein, Rodebrand.«

»Wissen Sie, wo es ist?«

»Ja sicher, ich kenne mich aus in Stockholm.«


 

2
 

Aslak Järvi lehnte den Kopf an die Scheibe des Flugzeugs. Das Vibrieren der Maschine, welches sich auf seinen Körper übertrug, machte ihn schläfrig. Sein Blick glitt hinaus auf die Tundra und das schroffe Gebirge des Sarek, das sich kurz ins Fenster schob – irgendwie schief. So fühlte er sich auch gerade – seltsam in Schräglage.

 

Eyvind war vor einigen Tagen in einer Internetzeitung auf ein Phantombild einer Fahndung bezüglich eines Überfalls auf ein Schmuckgeschäft gestoßen. »Ich finde, das sieht ihm verdammt ähnlich«, hatte er gesagt und auf das Foto auf seinem Smartcom getippt.

Aslak hatte es nur flüchtig aus dem Augenwinkel heraus betrachtet. Denn eigentlich wollte er nichts von ihm sehen und nichts von ihm wissen. Ja, sicher, Nils war sein Bruder, besser gesagt Halbbruder. Doch er selbst gehörte der örtlichen Polizei an und er hatte wenig Lust, seinen eigenen Bruder verhaften zu müssen. Es beruhigte ihn, dass sich Nils viel lieber in Stockholm oder Göteborg aufhielt als hier in Lappland. Das war weit genug entfernt, damit es zwischen ihnen beiden nicht zu folgenschweren Konflikten kommen konnte. Aber sein Onkel Eyvind war irgendwie auf die Idee gekommen, dass er, Aslak, in der Position sei, seinen Bruder wieder auf den richtigen Weg zu bringen, weg von den kriminellen Machenschaften, auf die er sich eingelassen hatte, weil er glaubte, für ein freies Sápmi – ein freies Lappland – kämpfen zu müssen.

»Was genau erwartest du jetzt von mir, Eyvind?«

»Du bist sein Bruder und ich bin fast so etwas wie euer Vater. Wir müssen ihn da rausholen«, hatte sein Onkel gefordert.

Aslak hatte eine gewisse Verzweiflung in Eyvinds Blick gesehen. Doch er konnte das nicht einordnen. »Wo raus?«

»Keine Ahnung. Aus diesen kriminellen Kreisen eben!«

»Wie genau soll ich das anstellen?« Er hatte den Mann vor sich fragend angeblickt. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern Nils und Irja unterstützte Eyvind ihn stets. Er hatte ihm viel zu verdanken. Zum Beispiel, dass er jetzt Polizist war, denn Eyvind hatte ihm diese Ausbildung ermöglicht. Auf sámischen Boden hatte es in historischen Zeiten nie so etwas wie Polizei oder Militär gegeben. Derartige Organisationen hatten die Länder eingeführt, die sich nach Norden ausgebreitet hatte, also Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, und Sápmi somit zerteilten. Deshalb war sein Berufswunsch sehr ungewöhnlich gewesen.

»Ich weiß doch gar nicht, wo er ist«, war seine fast trotzige Antwort gewesen.

»Ich denke, er ist in Stockholm. Als Polizist hast du doch genug Möglichkeiten, ihn zu finden.«

»Du träumst. Wenn ich Nils mit meinen Fahndungsmöglichkeiten suchen würde, dann hätte er schnell Ärger am Hals. Willst du, dass ich meinen eigenen Bruder ins Gefängnis stecken muss?«

»Das will ich ja gerade verhindern. Du hast Möglichkeiten. Du kannst hier was löschen, da was verschwinden lassen.«

Aslak runzelte die Stirn, schob den Kaffeebecher mit dem roten Elch drauf von sich weg und stand auf. Eyvind stellte sich das so einfach vor. Nils war ein erwachsener Mann und musste selbst das Richtige vom Falschen unterscheiden können. Außerdem hatten sie sich nie so nah gestanden, wie sein Onkel Eyvind sich das für die zwei Brüder gewünscht hätte. Nils und seine Schwester Irja hatten ihm das Leben zur Hölle gemacht, seit Mutters Tod.

Sein Verstand sagte ihm, dass ihn keinerlei Schuld traf. Er war schließlich damals ein kleines Kind gewesen, hatte keine Ahnung von der Welt und den Problemen der Mutter gehabt. Doch für die beiden älteren Halbgeschwister war nur er greifbar gewesen, als sie sich das Leben genommen hatte. Also übertrugen sie ihm die Schuld. Er war schuld, nur durch seine bloße Existenz.

 

So grübelte er in dem kleinen, nicht sehr Vertrauen erweckenden Flugzeug von Jokkmokk – auf Sámisch Dálvvadis genannt – nach Stockholm vor sich hin. Als er die Stadt von oben sah, kamen Zweifel in ihm auf, ob er das Richtige tat und ob er das Richtige getan hatte. Der zunehmende Mond glitzerte im Wasser des Mälaren. Aslak wünschte sich, dass es das Wasser des Rapaätno wäre.

Nach der Landung mietete er sich einen Wagen, ein riesiger Koloss, fast ein Kleintransporter. Zu viele Kongresse fanden gerade in der Stadt statt, sodass er keine Auswahl hatte. Ziellos fuhr er durch die Straßen. Er hatte auf manuelle Bedienung gestellt, um ein Gefühl der Kontrolle zu erzeugen. Die Frauenstimme des Navigationssystems wies ihn zum x-ten Mal darauf hin: Bei der nächsten Möglichkeit bitte wenden!

Die hohen Häuser, der Verkehr, die vielen Menschen erdrückten ihn. Er fühlte sich unwohl, öffnete das Fenster und rang nach Luft. Er wollte zurück in die Tundra, denn er brauchte das weite Land. Als er die Centralbron überquerte, stieg eine kühle Brise vom Wasser herauf. Hier mischten sich Mälaren und Ostsee. Die gusseiserne Turmspitze der Riddarholmskyrkan ragte wie eine durchbrochene Lanze in den wolkenverhangenen Himmel. Drohend.

Er bog links nach Gamla Stan ab, parkte neben einem Parkverbotsschild und ging zu Fuß weiter durch die Gassen der historischen Altstadt. Es war nicht seine Welt. Obwohl er einige Zeit in Göteborg gelebt hatte, konnte er sich mit den Großstädten nicht anfreunden. Auch dort hatte er sich nicht heimisch gefühlt. Es war nur aus der Notwendigkeit heraus gewesen, um die Polizeiakademie zu absolvieren.

Seine Schritte lenkten ihn durch die schmalen Straßen, als ob er schon einmal hier gewesen wäre. Dann stand er vor dem alten Haus. Es wirkte ein wenig schief und eingeengt, als ob es die Nachbarhäuser zusammendrücken wollten. Der rote Putz blätterte an vielen Stellen ab. Durch die Fenster fiel keinerlei Licht auf das Pflaster. Es schien unbewohnt zu sein. Die Adresse hatte er über suspekte Umwege in Erfahrung gebracht und er war sich nicht sicher, ob sie wirklich stimmte.

Unschlüssig stand Aslak deshalb in einem dunklen Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Eine kleine Überwachungsdrohne schwebte durch die Straße und er drückte sich tiefer in den Schatten des Eingangs. Solches Equipment hatten sie im Norden nicht und er fühlte sich plötzlich nicht mehr wie ein Polizist, sondern wie ein Verbrecher. Mit einem Mal kam er sich hier fehl am Platz vor. Was genau wollte er?

Unvermittelt öffnete sich die Tür des observierten Hauses und ein Mann schlüpfte hinaus. Er blickte sich nach allen Seiten um, zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht und schritt langsam und ohne Hast Richtung Slussen Kajen davon.

Aslak kontrollierte den Sitz der Dienstwaffe in seinem Schulterholster während er dem jungen Mann hinterherblickte. Ja, das war Nils. Doch was ging ihn das Leben seines Bruders an? Er war sich nun sicher, dass er hier nichts verloren hat, drehte um und ging zum Auto zurück.


 

3

 

Das Restaurant Den Gyldene Freden lag nördlich des Slussen Kajen in Stockholms Altstadt Gamla Stan. Staffan Rodebrand saß mit dem Rücken zur Wand, sodass er den Eingang im Blick hatte. Er mochte die antiken Möbel gepaart mit modernen Accessoires, das gesamte Ambiente dieses altehrwürdigen mehrstöckigen Restaurants, das in den letzten Jahren zu einem edlen Geheimtipp avanciert war. Kristallene Lüster hingen von der Holzdecke und Rodebrands Blick blieb einen Moment an den funkelnden Glastropfen der Beleuchtung hängen, wanderte weiter über ein Sideboard mit unzähligen Flaschen und kam auf seinem Tisch zum Halten. Eine Flasche Wein stand geöffnet auf der weißen Decke, die das dunkle Holz des Tisches zierte. Im Glas daneben verströmte die rote Flüssigkeit ihr Bouquet, eine Mischung aus den Aromen dunkler Früchte und Karamel, wie sie typisch für den Merlot war. Endlich erkannte er seinen erwarteten Besucher in der Eingangstür. Er verharrte am Platz, bis der junge Mann ihn entdeckt hatte, und nickte ihm dann freundlich zu.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Asmusen«, sagte Rodebrand, als sein Gast den Tisch erreicht hatte.

»Nein, ich bedanke mich bei Ihnen für die Einladung«, antwortete der Jüngere und strich sich mit der Hand nervös durch sein dunkelbraunes Haar.

»Keine Ursache. Schließlich sind Sie mein Lebensretter. Irgendwie möchte ich mich dafür revanchieren.«

Rodebrand half Sören Asmusen aus dem Mantel und bot ihm einen Stuhl an.

Der junge Mann setzte sich und lächelte verlegen. »Es hätte auch schief gehen können, denn die Technologie ist noch nicht ausgereift. Doch Ihre freiwillige Teilnahme an den Experimenten hat uns ein ganzes Stück weitergebracht.«

»Das freut mich zu hören. Es ist schon ein kleines Wunder, dass ich mich als komplett geheilt betrachten kann. Normalerweise wäre ich mit meiner Diagnose Hirntumor schon unter der Erde.« Rodebrand füllte etwas von dem Merlot in ein Glas und reichte es Asmusen. Dann prostete er ihm mit seinem eigenen Glas zu, trank einen Schluck und blickte den jungen Mann ernst an. »Sagen Sie, Dr. Asmusen: Nachdem Sie mir in den letzten Monaten so viel Einblick in Ihre Arbeit gewährt haben, könnten Sie sich vielleicht vorstellen, Ihr Wissen lukrativer anzubringen?«

»Wie meinen Sie das?«

Rodebrand lächelte und strich sich mit der Hand über das zurückgekämmte, für sein Alter nur leicht graumelierte Haar. Die geschwungenen Brauen über den dunklen Augen gaben ihm ein selbstbewusstes Aussehen. Doch gleichzeitig wirkte er arrogant und für sein Gegenüber zunehmend furchteinflößender. »Um es auf den Punkt zu bringen: Ich biete Ihnen ein sechsstelliges Jahresgehalt und Sie besorgen mir alle Daten Ihres Projekts. In meinem Unternehmen können Sie dann Ihre Forschungen ohne finanzielle Einschränkungen fortsetzen. Ich hätte da auch schon Testpersonen.«

»Aber das geht nicht!« Asmusen sprang empört auf. »Das wäre Industriespionage!«

Rodebrand blickte seinem Gegenüber forschend in die Augen. »Keine Angst. Die Spionage ist schon durch andere geschehen. Ich brauche Sie mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen, um mein Projekt erfolgreich zu machen. Denn im Moment sind wir, ehrlich gesagt, von Misserfolgen geplagt. Unsere Experimente schlagen stets fehl.«

»Sind Sie verrückt?«

»Schreien Sie nicht so laut. Setzen Sie sich wieder hin!« Rodebrands Stimme war leise, doch sein Ton scharf.

Asmusen sah sich verstohlen um und setzte sich unschlüssig. Sein Gegenüber ergriff seine Hände. Rodebrands Tonfall bekam nun eine ungewöhnlich väterliche Färbung. »In vier Tagen fliege ich nach Lappland. Dort habe ich einige Experimente am Laufen. Begleiten Sie mich und sagen Sie mir Ihre Meinung. Bei mir bekommen Sie das, was Sie tatsächlich verdienen und kein bloßes Angestelltengehalt. Motive wie Ehre oder für die Menschheit sind wirklich überholt.«

»Wie können Sie so etwas vorschlagen?«

Rodebrand bemerkte Asmusens Verunsicherung. »Eine Million pro Jahr. Mein letztes Angebot!«

Der junge Mann stierte mit verbissenem Gesicht in Rodebrands Augen. An der Bewegung seiner Wangenmuskulatur konnte man erahnen, dass er nervös die Zähne aufeinander mahlen ließ.

Rodebrand sah auf die Uhr und lächelte wieder. »Überlegen Sie es sich. Ich habe jetzt keine Zeit mehr, da ich noch einen anderen Gast erwarte. Ich melde mich morgen bei Ihnen und wünsche dann eine Antwort.« Er stand auf und blickte Asmusen auffordernd an.

Dieser erhob sich unsicher und knöpfte nervös sein Jackett zu. Zum Abschied gaben sie sich die Hände. Dabei zog Rodebrand Dr. Asmusen nah an sich heran und raunte ihm ins Ohr: »Sehen Sie sich morgen auf jeden Fall die Nachrichten an!«

Als Asmusen mit leicht unsicherem Gang das Lokal verließ, trat ein junger Mann ein, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Er trug Jeans und eine schwarze Jacke, keinen Anzug wie die meisten Gäste hier. Sein Äußeres passte nicht hierher, in das exklusive Ambiente dieses Restaurants, bemerkte Rodebrand lächelnd. Zielstrebig kam der junge Mann auf ihn zu. Rodebrand erhob sich und begrüßte ihn mit überschwänglichem Händeschütteln und einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Nils!«


 

4

 

Die Tiefgarage lag im Halbdunkel der Sicherheitsbeleuchtung. Eine der kleinen provisorisch angebrachten Leuchtstoffröhren über der Aufzugstür flackerte. Der Mann ließ den Blick über den grauen Beton des Bodens, der Wände, Decken und Pfeiler gleiten. Eine Kamera konnte er, wie schon vor zwei Wochen, nicht erkennen. In einem Bereich zu seiner Linken türmten sich jetzt jedoch Müll und Schutt, der mit blau-weißen Plastikbändern umgrenzt war. Die Renovierungsarbeiten kamen schleppender voran als geplant, hatten die Medien kürzlich berichtet.

Es standen nur zwei Autos zwischen den Säulen auf dieser Ebene: eine schwarze Limousine mit Panzerglas und kugelsicherer Karosserie sowie ein kleiner weißer Lieferwagen eines Pizzaservice.

Der Mann öffnete die hintere Schiebetür des Lieferfahrzeugs. Er zerrte eine rote Jacke heraus, auf deren Rückseite das Bild einer verlockenden Pizza prangte. Zügig aber ohne Hast zog er sie an und schob die rote Baseballmütze, unter die er seine langen blonden Haare gestopft hatte, tiefer ins Gesicht. Neben ihm raschelte es und er wandte den Kopf in Richtung des Geräusches. Sein Partner übergab ihm einen Stapel Pizzaschachteln. Der dritte saß wartend auf dem Fahrersitz und kaute an seinen Fingernägeln.

Ein elektronisches Bing kündigte die Ankunft des Aufzugs aus dem Stockholmer Parlamentsgebäude an, das sich aus Stahl und Glas über dieser Garage auftürmte. Die Türflügel glitten zur Seite und fröhliches Lachen drang heraus. Zwei Männer traten in den Lichtkegel, der aus der Tür floss. Ihre gerade noch heiteren Gesichter bekamen einen konzentrierten Ausdruck. Sie hielten jeder die rechte Hand in die Knopfleiste ihrer schwarzen Jacketts gesteckt. Sorgsam blickten sie sich nach sämtlichen Seiten um. Der Pizzabote eilte beladen mit Schachteln auf den Aufzug zu.

»Danke, dass Sie ihn aufgehalten haben.« Er lächelte freundlich und zwängte sich ungeschickt an den Bodyguards vorbei in den Lift. 

»Schon gut. Ist ja kein Problem«, antwortete der Jüngere der beiden. Er war ein hochgewachsener Mann mit kurz geschnittenem blondem Haar und blickte den Pizzaboten nachdenklich an, der sich an ihm vorbeizwängte.

»Alles in Ordnung, Frau Malmberget, wir können zum Auto gehen«, erklärte der andere Bodyguard. Auch er trug eine Kurzhaarfrisur, allerdings mit grauen Strähnen an den Schläfen. Einige Falten zierten seine Augenwinkel. Seine Haltung und die präzisen Bewegungsabläufe ließen erkennen, dass er früher einmal beim Militär gewesen war. 

Sigrit Malmberget, Mitglied des Parlaments und in letzter Zeit mit starker Medienpräsenz, trat aus dem Aufzug. Nachdem sie offenbar beim Öffnen der Lifttür angespannt geschwiegen hatte, nahm sie ihr Gespräch nun wieder auf.

»Okay, sagte ich, wenn Sie die Rechnung zahlen«, beendete sie lachend ihre Anekdote.

Ihre Begleitung, eine junge schlanke Dame im grauen Fuchsmantel, kicherte höflich. »Du bist mir ja eine ganz Gerissene«, bemerkte sie grinsend.

Beide beachteten ihre Bodyguards nicht weiter, da sie offenbar anderes im Kopf hatten. Die jugendliche Blondine an Malmbergets Seite erforderte deren ganze Aufmerksamkeit. Sie schlenderte mit ihr im Arm und ihrem Aktenkoffer in der Hand dem sicheren Fahrzeug entgegen.

Die zwei Herren des Sicherheitsdienstes öffneten die Wagentüren. Das nahm der Pizzabote im Aufzug als Zeichen seines Einsatzes. Er ließ die oberen Kartons fallen, griff in den unteren und zog eine Pistole heraus, die er auf die Personen am Wagen richtete. Fast gleichzeitig sprangen seine Partner aus dem Lieferfahrzeug. Sie waren maskiert und zielten ebenfalls mit ihren Waffen auf die Menschen an der Limousine.

Der ältere Bodyguard reagierte prompt und zog seine Pistole unter dem Jackett hervor. Doch bevor er abdrücken konnte, trafen ihn zwei Kugeln in die Brust. Sie durchschlugen die Kevlarschichten seiner beschusshemmenden Weste, als wären es nur unbedeutende Stofflagen und lähmten seine Bewegungen sofort. Er prallte rücklings gegen den Wagen und glotzte seinen Partner ungläubig an, während er an der Karosserie herunterrutschte.

Der jüngere Bodyguard sprang im selben Moment zwischen Sigrit Malmberget und den Schützen. Er schaffte es, eine Kugel abzufeuern. Der Knall hallte in der leeren Tiefgarage mehrfach wider. Das Projektil sauste auf den Pizzaboten zu, zog eine tiefe Furche durch seinen Oberarm, flog fast ungebremst weiter und bohrte sich in die Aluminiumrückwand des Fahrstuhls. Das Geräusch löste die Blondine, die bis jetzt mit offenem Mund neben der geöffneten Wagentür gestanden hatte, aus ihrer Erstarrung. Schreiend und kreischend schob sie Malmberget zur Seite und sprang in das Auto.

Bevor der junge Bodyguard einen zweiten Schuss platzieren konnte, streckten ihn zwei Kugeln der beiden Partner des Pizzaboten nieder. Röchelnd lag er am Boden.

Ungeachtet seiner eigenen Verletzung ging der Pizzabote zielstrebig und mit ausgestrecktem Waffenarm auf die jetzt ungeschützte Abgeordnete zu.

»Was wollen Sie?«, rief Malmberget panisch. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.

Die Blondine kreischte: »Komm ins Auto!«

Doch Malmbergets Schuhsohlen schienen mit dem steinharten Betonboten der Tiefgarage zu verschmelzen. Der falsche Pizzabote sah ihr an, dass sie genau wusste, dass es aus war.

Panisch riss die Blondine die Wagentür zu.

»Ich kann Ihnen Geld geben, viel Geld.« Malmberget atmete schwer und sah den Pizzaboten verzweifelt an.

Dieser antwortete mit einem kalten Blick totaler Verachtung und richtete die Waffe genau auf den Punkt zwischen Malmbergets Augen.

»Nein!«, flehte sie.

Ein Knall beendete schlagartig ihr Leben.

Einer der Partner des Pizzaboten richtete nun die Pistole auf die Blondine, die sich wie von Sinnen auf der Rückbank wand. Sie hatte es geschafft, auch die andere Wagentür zu schließen und die Zentralverriegelung zu aktivieren.

Der Mann schoss auf die Scheibe. Das Projektil hinterließ eine Menge Risse und einen Krater in der oberen Lage des transparenten Kunststoffverbunds, durchdrang ihn jedoch nicht. Der Pizzabote gab ihm ein Zeichen, von ihr abzulassen, denn er wusste, dass sie keine Chance hatten, sie jetzt zu töten. Er beobachtete, wie die Frau zitternd zwischen die Sitzbänke rutschte.

Ohne Hast hockte sich der falsche Pizzabote neben dem älteren Bodyguard nieder und legte prüfend die Finger an dessen Hals. Als er sich vergewissert hatte, dass der Mann tot war, stand er auf und ging zu dem jüngeren hinüber. Dieser lag nach Luft ringend am Boden. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Offenbar bewegungsunfähig starrte er seinen Mörder entsetzt an, der einen Moment zu zögern schien. Ihre Blicke saugten sich für einige Sekunden in den Augen des Gegenübers fest. Dann richtete er seine Pistole auf den Kopf des Bodyguards und drückte ab.


 

5

 

Selma Fredriksson schloss die Akte und somit den Fall, den sie gerade bearbeitet hatte. Die achtundzwanzigjährige Kommissarin von Euro-Police war mit sich zufrieden. Wieder hatte sie einen Umweltsünder dingfest machen können und dadurch ihre Aufklärungsrate auf neunzig Prozent gesteigert. Erneut war es eine große Firma gewesen, die ihren Sondermüll illegal nach Sibirien transportiert hatte, um ihn dort in den Weiten der Tundra verschwinden zu lassen, und damit Millionen von Entsorgungskosten zu sparen gedachte. Diesen Fall hatte Selma, wie fast jeden, komplett vom Schreibtisch aus aufgeklärt. Als Analytikerin konnte sie jedwede Information online beschaffen und auswerten. Sie mochte die Arbeit im Außendienst nicht und in der Regel beschränkte er sich auf die weiten Verzweigungen des Internets. Dort ließen sich schneller und effektiver Verbrechen aufklären, da durch Code-Karten jedweder Art ein Täter mehr Spuren im Netz hinterließ, als an jedem Tatort. Und selbst die Indizien vom Tatort konnte sie online durch das International Forensic Network analysieren und in den richtigen Zusammenhang bringen.

Als Selma die Akte geschlossen hatte, öffnete sich auf ihrem Desktop ein Fenster ihres Terminkalenders. Es erinnerte sie an die regelmäßige Schießübung, die sie in einigen Tagen zu absolvieren hatte. Sie stöhnte. War das wirklich notwendig? Sie zog die Schreibtischschublade heraus und wühlte darin herum. Ganz hinten fand sie die Dienstpistole. Sie überprüfte kurz die Funktionen. Wenn sie sich nicht erneut vor der Übung drücken konnte, sollte jedoch nicht jeder gleich bemerken, dass sie das Ding sehr stiefmütterlich behandelte. Es schien alles noch funktionsfähig zu sein. Sie schob die Waffe wieder zurück in die Schublade, stand auf und wollte sich einen Kaffee holen, da winkte sie der Chef ihrer Abteilung in sein Büro und sie betrat das gläserne Office.

 

Der Kommissar Karl Schmitt registrierte verwundert, wie Selma Fredriksson sich krümmte, als hätte ihr jemand einem Schlag in den Magen verpasst. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und suchte mit der linken Hand verzweifelt nach Halt.

Johann Erikson sprang hinter seinem Schreibtisch hervor und kam ihr zur Hilfe geeilt.

»Setzen Sie sich erst einmal«, hörte Karl durch die halb geöffnete Bürotür seinen Chef.

Dieser geleitete Selma väterlich zu dem Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches.

»Ist schon wieder gut«, antwortete die Frau.

»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Erikson besorgt.

»Nein, ist schon gut.«

Ungeachtet ihrer Antwort ging er zur Glastür, stieß sie noch weiter auf und rief: »Bringt mal jemand ein Glas Wasser?«

Selmas Kolleginnen und Kollegen starrten wie in Trance auf die Szene. Die Stimme des Abteilungsleiters holte Karl als ersten aus seinem Staunen wieder in das Büro zurück. So hatte er Selma noch nie erlebt. Normalerweise gab sie sich kühl und überlegen, hatte immer alles im Griff. Ihr konnte niemand irgendwas vormachen. In diesem Moment wirkte sie aber ungewohnt weiblich und verletzlich. Er eilte zum Wasserhahn und brachte einen Ökoplastikbecher in den Raum.

»Ist etwas passiert?«, fragte er wie beiläufig, doch es gelang ihm schlecht, seine Neugier zur verbergen.

 

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