Der Koloss aus dem Orbit

Der Koloss aus dem Orbit
eine dystopische Zeitreise

 

Hier der Klappentext und die Buchinfos:

 

Seit Jahren umkreist ein unbekannter Koloss die Erde, bis schließlich ein Team zusammengestellt wird, das die Technologie dieses vermeintlichen Raumschiffs bergen soll. Doch niemand reißt sich um diese Aufgabe, so findet sich eine Crew, die nicht wirklich etwas Besseres zu tun hat. Zu ihr gehören die drogensüchtige Journalistin Dysti und der ausgemusterte Cyborg Xell.
Als der Trupp dem Geheimnis des Kolosses auf die Spur kommt, können sich Dysti und Xell nur durch eine Flucht in die Zukunft retten. In eine Zukunft, die einem Paradies gleicht. Aber die Idylle trügt.


Der Koloss aus dem Orbit
Science-Fiction-Roman
Plan 9 Verlag, April 2021
Taschenbuch, 368 Seiten, 14,00 Euro
ISBN 978-3-9487-0036-2

Essay zum Thema Cyborg - Veröffentlicht auf TOR-Online
 

Jacqueline Montemurri

Cyborg – Von der Fiktion zur Realität


Cyborg – was ist das eigentlich? Im Allgemeinen verstehen wir darunter einen Menschen, der durch technische Implantate aufgerüsteten wurde. In der Literatur tauchten diese Mischwesen schon länger auf, doch der Name wurde erst von Wissenschaftlern in den 1960-er Jahren geprägt. Das war die Zeit, als sich die Menschen in den Weltraum aufmachten. Die Bedingungen außerhalb unserer schützenden Atmosphäre sind für einen normalen Menschen lebensfeindlich. Deshalb überlegten sich die zwei Wissenschaftler Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline, wie sie den Menschen an die Bedingungen des Weltalls anpassen könnten. Ihr Projekt gab es zwar nur in der Theorie und wurde nie umgesetzt, doch der Name, dem sie so einem Mensch-Maschinen-Hybriden gaben, blieb: Cyborg. Er wurde aus dem englischen Begriff cybernetic organism – also kybernetischer Organismus – abgeleitet.

 

Natürlich gab es schon geraume Zeit Hilfsmittel, die die Menschen einsetzten, um Verletzungen oder andere Unzulänglichkeiten zu kompensieren. Ob jedoch ein Hörgerät, eine Brille oder eine einfache Hand- oder Beinprothese einen Menschen zum Cyborg machen, sei dahingestellt. Selbst ein Herzschrittmacher, mit Sicherheit ein recht tiefgreifendes technisches Element im menschlichen Körper, würden die meisten Menschen nicht als eine derartige Modifikation ansehen, die die Bezeichnung rechtfertigen würde. Aber was macht ein Cyborg aus und gibt es sie tatsächlich schon?

 

Wir stellen uns so einen Cyborg natürlich viel anders vor, mit Superkräften und Superfähigkeiten. Vorbilder dafür gibt es in der Science Fiction zur Genüge. Cyborgs, die Mensch-Maschine-Hybriden, waren und sind Thema in zahlreichen Filmen und Büchern, meist mit negativer Konnotation. In Mangas, wie z.B. Ghost in the Shell, Cyborg 009 oder Gunslinger Girl begegnen sie uns als Killer. Ebenso der Killer-Cyborg als Gegenspieler von Superman im DC-Comic-Universum. Die Teen-Titans allerdings sind in ihrer Comic-Welt nicht als Killer sondern als Beschützer unterwegs.

Kaputte Cyborg-Typen, die nicht als perfekte Killermaschinen durch ihr Universum rennen, sondern eher mit den Tücken des Alltags zu kämpfen haben, beschreibt z.B. William Gibson 1984 in seiner Neuromancer-Trilogie und auch Andreas Eschbach 2003 in seinem Roman Der letzte seiner Art. Die Charaktere in diesen Storys haben eher wenig Freude an ihren technischen Modifikationen.

Auch auf der Leinwand sind uns schon öfters Cyborgs begegnet. Sei es 1973 Der-Sechs-Millionen-Dollar-Mann, 1987 und 2014 RoboCop, 1992 Universal Soldier, 2009 Marcus Wright in Terminator – Die Erlösung oder 2013 Max Da Costa in Elysium.

In den meisten Darstellungen von Cyborgs geht es um das Aufrüsten von Menschen, um daraus Supersoldaten zu machen. Aber in einigen Storys wird auch die negative Seite dieser Medaille angesprochen, wenn nämlich etwas schief geht. Der letzte seiner Art z.B. beschreibt einen Cyborg, der keineswegs ein heldenhafter Krieger ist, sondern ein bedauernswertes Versuchskaninchen. Für die damalige Zeit waren die Ideen von Eschbach sehr realistisch gehalten und wirkte gar nicht so futuristisch. Dem Protagonisten des Romans wurden einige Organe entnommen, z.B.  den Darm, um Platz für die Hightech-Geräte zu schaffen, die ihn zu einem Supersoldaten machen sollten. Somit konnte er nur noch Spezialnahrung zu sich nehmen. Zudem versagten, wie bei einem alten Auto, regelmäßig seine Systeme. So super war das mit dem Supersoldaten dann also doch nicht.

 

Aber wie realistisch sind die Ideen der Autor*innen bezogen auf unsere heutige Zeit? Was davon ist heute schon machbar? Könnten wir einen Supermenschen oder Supersoldaten erschaffen? Oder gibt es sie vielleicht schon?

 

Prothesen und Implantate sind gängige, fast schon alltägliche, medizinische Verfahren, um Menschen mehr Lebensqualität zu verschaffen. Es gibt implantierte künstliche Hüften und Gelenke, die zerstörte Knochen ersetzen. Auch künstliche Sehnen und Bänder können in den menschlichen Körper transplantiert werden. All das könnte sicherlich durch den Einsatz entsprechender Materialien dazu genutzt werden, um das menschliche Skelett widerstandsfähiger und leistungsfähiger zu machen.

Die Funktion des Herzens kann durch künstliche Herzklappen, Herzschrittmacher und implantierte Defibrillatoren unterstützt und beeinflusst werden. Unter bestimmten Umständen kann also der Mensch bei einem Herzstillstand automatisch widerbelebt werden. Doch all das lässt uns noch nicht wirklich das Gefühl aufkommen, dass Menschen mit diesen medizinischen Hilfsmitteln Cyborgs wären, da diese „Ersatzteile“ meist nur einzeln angewendet werden. Sie sollen kranken Menschen helfen, ein möglichst normales Leben zu führen.

Cochlea-Implantate und Retina-Implantate muten da schon viel futuristischer an, denn sie greifen nicht in die Motorik des Menschen ein, sondern in seine Sinne. Ersteres kann taube Menschen wieder hören lassen und zweiteres sollte Blinde sehen lassen. Beim Cochlea-Implantat wird der Hörnerv elektrisch erregt und bei der Steigerung davon – dem Hirnstamm-Implantat – ein Areal im Gehirn. Patienten sind nach intensivem Training in der Lage, wieder zu hören. Retina-Implantate sind Sehprothesen, die durch Microchips und Elektroden, Signale an den Sehnerv weiterleiten, wodurch Patienten wieder sehen können sollten. Dabei werden winzige Chips direkt auf die Netzhaut aufgebracht. Leider hat diese Technik nicht den gewünschten Erfolg gebracht. Doch die Forschungen gehen weiter. Wenn wir uns also einen Cyborg „basteln“ wollten, könnte man diese Implantate sicherlich dazu benutzen, damit der Supermensch Geräusche hören kann, die sehr leise oder weit weg sind. Ebenfalls könnte man sich vorstellen, eine Sehprothese so weit zu modifizieren, dass er im Infrarotbereich sehen könnte.

So richtig futuristisch wird es, wenn man sich die Fortschritte bei gedankengesteuerten Prothesen ansieht. Das entspricht schon sehr genau unserer Vorstellung eines Cyborgs. In Wien wurde eine Armprothese entwickelt, die direkt mit den Nervenbahnen des Patienten gekoppelt ist, der dann den bionischen Arm bewegen kann, als wäre es sein eigener. Auch für Querschnittsgelähmte werden Chips entwickelt, die es ermöglichen sollen, dass die Patient*innen wieder laufen können, indem die unterbrochene Stelle des Rückenmarks mit diesen Leitern überbrückt wird.

Noch spannender oder vielleicht auch gruseliger wird es, wenn in Menschen Chips implantiert werden und sie somit auf gewisse Weise zu einem Computer mutieren. Schon 2015 gab es Berichte darüber, dass in Schweden Chips in die Hände implantiert werden, um bargeldlos zu zahlen, oder Türen zu öffnen. Mittlerweile wird diese Technologie in vielen Staaten angewandt. In Deutschland tragen schon etwa 3500 Menschen einen derartigen Chip unter der Haut. Auch das von Elon Musk vorgestellte Brain-Computer-Interface – ein Chip im Gehirn, der die Kommunikation mit Computer ermöglichen soll – mutet an, wie aus einem Science-Fiction-Roman. Diese Technik wird jedoch wirklich entwickelt und besteht nicht nur auf dem Reißbrett.

 

Solange die technische Aufrüstung zur Erhaltung und Verbesserung der Lebensqualität dient, empfinden wir diesen Fortschritt sicherlich als positiv. Doch gibt es immer die Ausnutzung der wissenschaftlichen Errungenschaften in der Militärtechnik. Und dann kommen wir dem Supersoldaten-Cyborg immer näher. In den USA wird tatsächlich schon seit Jahren an Techniken geforscht, die eben nicht der Lebensqualität kranker oder verletzter Menschen dienen soll, sondern die Kampffähigkeit von Soldaten verbessern. Mikroskopisch kleine Superimplantate an Nerven sollen Schmerz ausschalten, Blutungen stoppen, Organe wiederbeleben, Ermüdungsgefühle unterdrücken, Vergiftungen durch beschleunigte Leberfunktion bekämpfen, die Herzfrequenz herunterregeln, um beim Schießen besser zu treffen. Ein von Geschossen zerfetzter Soldat soll also in die Lage versetzt werden, wie ein gefühlloser Roboter, einfach weiter kämpfen zu können.

Wenn man sich diese Techniken vor Augen führt, falls sie wirklich irgendwann zum Einsatz kommen sollten, sind wir genau in diesen Welten, die in den oben erwähnten Filmen und Büchern beschrieben wurden. Hier bewegen wir uns nun tatsächlich auf den Bahnen, die die Science-Fiction-Autor*innen ausgelegt haben. Der Mensch verschmilzt mit der Maschine – und das nicht fiktiv, sondern durchaus real. Die Techniken sind vorhanden oder in Entwicklung. Die Frage ist, was wir daraus machen werden.

 

Zumindest in Deutschland ist die Beschäftigung mit dem Thema friedlicher Art. Es gibt sogar einen Verein – den Cyborgs e.V. – der sich mit der Förderung und kritischen Begleitung der Verschmelzung von Mensch und Technik beschäftigt. Eins seiner Anliegen ist u.a. „Das Bild des Cyborg als willenlose Kampfmaschine in der Öffentlichkeit zu korrigieren.“

Auch gibt es Studiengänge, die sich mit der Schnittstelle des Menschen zur Technik beschäftigen. An der Hochschule Rhein-Ruhr in Bottrop kann man Mensch-Technik-Interaktion studieren. Dort werden zwar keine Cyborgs konstruiert, sondern es geht um die Kommunikation zwischen Mensch und Maschine sowie Usability. Aber letztendlich eben um die Schnittstelle zwischen Mensch und Technik, was ebenso in der Medizintechnik angewendet werden kann.

 

Ich denke, dass bei aller SF-Fantasie sicherlich in jeder neuen Technik Risiken und Chancen liegen. Hoffen wir, dass die Menschen die Chancen sehen und nutzen und die Cyborg-Technologien zum Wohle aller einsetzen und nicht zur Kriegsführung.

 

Meine Erzählung Der Koloss aus dem Orbit, die im EXODUS-Magazin erschien, erhielt 2020 den Kurd-Laßwitz-Preis.

 

Aus dieser Erzählung entstand mein Science-Fiction-Roman Der Koloss aus dem Orbit, der im September 2021 im Verlag Plan 9 erschien. Darin habe ich viele der hier aufgeführten Cyborg-Technologien eingeflochten. Die Protagonisten Dysti und Xell haben beide technische Implantate, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Bei Xell sind es technische Aufrüstungen nach einer lebensgefährlichen Verletzung, die ihn zum Supersoldaten machen sollten. Dysti dagegen hatte sich einen Chip ins Hirn pflanzen lassen, der sie jederzeit mit dem Internet verband. Damit wollte sie ihre Karriere als Journalistin pushen. Natürlich entsprachen die Resultate der Aufrüstungen nicht wirklich den Erwartungen. Der Roman beschäftigt sich u.a. mit der Frage: Wo ist die Grenze zwischen Mensch und Maschine?

 

Update: Einige Links im Text habe ich aktualisiert, weil die Webseiten der  ehemaligen Links nicht mehr vorhanden waren.
 

Leseprobe

Koloss im Orbit

 

1.

 

Das Leben ist beschissen.

Als vor fast zehn Jahren dieses Ding auftauchte, war es mit meiner Karriere steil bergauf gegangen. Ich berichtete aus allen Teilen der Welt über den Koloss, wie sie es nannten. Das Ding war einfach aus dem Nichts aus Richtung Sonne aufgetaucht. Zunächst nahm man an, dass ein Teil des halbjährlichen Mülltransportes zur Sonne aus der Bahn geraten und durch ein Swing-by-Manöver auf einen Rückkehrkurs zur Erde katapultiert worden war. Doch die Bahnanalysen ließen den beunruhigenden Schluss zu, dass dieser Koloss bewusst einen Orbit um unseren Planeten eingenommen hatte.

Ich – Dysti Adams – hatte damals eben erst meine bahnbrechende Operation hinter mich gebracht. Eine glänzende Idee. Dadurch war ich geradezu prädestiniert dafür gewesen, die Berichterstattung über den Koloss aus allen Teilen der Welt zu übernehmen. Manch einer behauptete, dass ich mit meiner kühlen überlegenen Art und Weise der Reportage maßgeblich dazu beigetragen hatte, eine weltweite Massenpanik zu verhindern. Denn natürlich ging man zunächst von der Invasion einer außerirdischen Rasse aus. Aber der Überfluss an Informationen, der von nun an durch mein Gehirn raste und den ich in Sekundenschnelle verarbeiten konnte, versetzte mich in die Lage, den Menschen einen Eindruck von Normalität zu vermitteln. Und so, wie es bei großen Katastrophen in der Welt schon immer der Fall gewesen war, nahm die Menschheit den Koloss im Laufe der Zeit als etwas Natürliches wahr. Das Interesse an ihm flaute ab, ebenso wie das vor Jahrzehnten nach dem Tschernobyl-GAU, dem Fukushima-Desaster, dem Untergang Kaliforniens durch das Superbeben in der San-Andreas-Verwerfung und den regelmäßigen Pandemien durch neue Viren der Fall gewesen war. All dies wurde nach gewisser Zeit von den Menschen einfach als gegeben hingenommen.

Nur hatte das alles nichts mit mir zu tun gehabt. Diesmal allerdings schon. Denn ich habe mich damit selbst ins Aus geschossen und überflüssig gemacht. Die Sender nahmen meine Reportagen aus dem Programm. Niemand zeigte noch größeres Interesse an dem Koloss im Orbit. Natürlich fühlte ich mich gekränkt und gab an den falschen Stellen die falschen verbitterten Kommentare ab. Damit war es mit meiner Karriere schneller vorbei, als ich es mir je vorgestellt hatte. Aus war es mit meiner kühlen überlegenen Art und Weise der Reportage, verfluchte Wichser.

Das Leben ist eben beschissen.

 

Das Meer rauschte und wogte sanft an den weißen Sandstrand. Der Blick auf die azurblauen Wellen und den endlosen Horizont erfüllte mich mit Zufriedenheit. Mein makelloser Körper schwang leicht mit der Hängematte zwischen den Palmen hin und her. Meine sonnengebräunte Haut glänzte im Abendlicht über meinen dezent sportlichen Muskeln. Das lange rote Haar floss wie ein exotischer Wasserfall an der Seite herab. Bald würde die Sonne hinter dem Horizont versinken und das Firmament in die Farbenpracht meines Haares tauchen, wie immer. Ich seufzte erfüllt.

Der Himmel über dem Meer begann unversehens zu flimmern. Ein Strudel sog das Meerwasser nach oben. Es war ein gewaltiger blauer Tornado. Der Boden vibrierte. Entsetzt kippte ich aus der Hängematte und landete unsanft im Sand. Auf allen vieren stierte ich fassungslos dem Weltuntergang entgegen.

»Nein!«, schrie ich mit verzerrter Stimme. Mein Arm streckte sich aus, konnte den herannahenden Wirbel nicht stoppen und wurde hineingesaugt wie ein Gummiband. Mein Körper folgte, flog durch die Luft. Dann begann sich die Welt um mich zu drehen, zu wirbeln. Es wurde schwarz.

 

Mein Hals war trocken. Ich hustete und riss mir die Elektroden von den Schläfen und der Stirn. Wenn der Chip nicht deaktiviert gewesen wäre, hätte ich dieses Scheißkabelgewirr nicht gebraucht. Meine Augen versagten noch den Dienst, doch mein Hörsinn reagierte schon.

»Dysti Adams?«

Ich nahm dunkles Grau wahr und dann allmählich helle Flecken.

»Verdammte Scheiße!«

Ich riss mir die Kontakte von den Handgelenken. Der Sehsinn setzte ein und der Kopfschmerz. Mein hochfahrender Sehnerv registrierte zwei Männer in dunkelblauen, metallisch glänzenden Anzügen. Sie wirkten in dem grauen schmutzigen Raum, den ich meine Wohnung nannte, deplatziert. Eine Leuchtreklame draußen am Fenster tauchte in regelmäßigen Intervallen die fleckigen Wände abwechselnd in violettes und grünes Licht. Auf dem Boden lag Kleidung verstreut. Das Frühstücksgeschirr der vergangenen Tage zierte den Tisch, dazwischen Monitore, eine antiquarische Tastatur, Kabel, Papierstapel. Letztere hätte ich mittlerweile zu Geld machen können, da Papier jeglicher Art als Rarität galt, aber ich brachte es nicht übers Herz, mich von den alten Zeitungen und Büchern zu trennen.

»Sie sind doch die Journalistin Dysti Adams?«

»Scheiße noch mal.« Ich griff nach dem Glas Wasser, das ich neben der Tastatur zurechtgestellt hatte, und schüttete es in meinen Hals. Vom Cybertravelling bekam ich stets Durst.

Journalistin? Ja, das war ich wohl mal. Doch wer waren diese Idioten? »Sind Sie völlig bescheuert? Wie können Sie einfach die Verbindung kappen? Wollen Sie, dass ich einen Schaden davontrage? Und wieso brechen Sie in meine Wohnung ein?«, blaffte ich sie an.

»Wohnung?« Der Sprecher blickte sich angewidert um, und in mir kroch ein Schatten von Unbehagen auf. »Es tut mir leid, dass wir Sie so unsanft aus Ihren Ferien holen mussten.« Sein Grinsen sagte mir, wie er es wirklich meinte, und meine aufkeimende Wut blendete das Unbehagen wieder aus. »Aber wir müssen mit Ihnen sprechen.«

Ich hatte mich von allen Kabeln und Kontakten befreit und stand auf. Über einem Stuhl hing eine braune Strickjacke, die wie auch ich ihre schönsten Jahre schon hinter sich hatte. Ich streifte sie über meine Arme, die durchaus nicht so sportlich trainiert waren wie die meines Avatars.

»Hören Sie, wir haben einen Job für Sie.«

»Für mich?« Der Kopfschmerz wurde schlimmer. Ich wühlte zwischen ein paar Kabeln, den alten Zeitschriften und vergilbten Büchern und fand einige runde Pillen. Beiläufig warf ich diese in meinen Mund und spülte mit einem Schluck Wasser nach.

»Wer ist der Auftraggeber?«

Der eine der beiden Männer, der bis jetzt das Gespräch geführt hatte, trat näher an mich heran und berührte seine linke Brust mit der Handfläche, als wolle er die Nationalhymne schmettern. Als er die Hand entfernte, blickte ich auf einen flachen Bildschirm, der auf sein Jackett aufgedampft war.

Angeber!

»Conny Industries«, erklärte er. Auf dem Display erschien das Logo des Konzerns. Seine Stimme verkündete: »Morgen früh um acht.« Er überreichte mir eine Karte. Dann verschwanden beide zur Tür hinaus.

Überrascht blickte ich auf das glänzende Ding in meiner Hand, von dem aus mich das Gesicht des Idioten weiterhin angrinste. »Morgen früh um acht«, wiederholte das Hologramm. Ich warf die Karte angewidert zwischen das schmutzige Geschirr. Doch dann atmete ich stoßweise aus. Ein Job wäre jetzt genau das Richtige. Ich konnte nicht ständig nur auf Cyberreise gehen. Irgendwann verblödete man. Zudem nahm das Geld ab und die Kopfschmerzen stetig zu. Manche Pillen waren schon wirkungslos geworden. Deshalb war ich jetzt schon bei Daph gelandet, einem synthetischen Opioid ähnlich dem Heroin, das früher einmal in war. Es ließ nicht nur die Schmerzen in Windeseile verpuffen, sondern durchströmte mich mit einem angenehmen Glücksgefühl, durch das ich mein beschissenes Leben ein wenig vergessen konnte. Und es machte laut Beipackzettel physisch nicht abhängig. Aber natürlich war das nicht der Grund, dass ich diese Pillen schluckte. Sie waren das wirksamste Medikament gegen meinen ständigen Kopfschmerz.

Ob die Schmerzen von dem häufigen Cybertravelling oder von dem Chip stammten, wussten die Ärzte nicht. Doch sie waren der Überzeugung, dass es nicht vom Chip kommen könne, da er deaktiviert worden war, seit Daily News TV mich gefeuert hatte. Ich verfluchte mein damaliges Ego, weil es sich dieses Ding ins Hirn hatte einpflanzen lassen, um seine Karriere voranzutreiben. Damit war ich in jeder Situation online mit dem Studio verbunden gewesen, konnte sogar live Informationen im Internet recherchieren. Nur das Ding wieder loszuwerden, erwies sich dann als zu riskant, da es Synapsen mit meinem Gehirn gebildet hatte. Sie deaktivierten es schließlich irgendwie. Doch es hatte sich wie ein Krebsgeschwür fest in meinem Kopf eingenistet.

 

Das einzige Problem an einem neuen Job waren die Menschen. Mittlerweile hatte ich mich an meine Abgeschiedenheit gewöhnt. Mein Sozialleben spielte sich ausschließlich in irgendwelchen Chatrooms ab. Richtig rausgehen, unter Leute gehen, war mir inzwischen ein Graus.

Ich sah in den fleckigen Spiegel neben der Tür. Die Frau, die zurückblickte, war einmal schön gewesen. Doch jetzt, Ende dreißig, sprang die ehemals sportliche Figur an einigen Stellen aus der Form, Augenringe und strähnige lange rote Haare. Das Einzige, was ich mit meinem Avatar gemein hatte, waren Haarfarbe und -länge. Bis morgen hatte ich noch viel Arbeit vor mir, um einigermaßen seriös auszusehen.

 

Unschlüssig stand ich vor der Tür aus Mahagoniholzimitat. Selbst für den Konzern war echtes Holz unerschwinglich. Ich strich die Jacke meines erbärmlich altmodischen Hosenanzugs glatt. In der Eile hatte ich nur diese cremefarbene Kombination finden können, die noch einigermaßen passte. Auf Vorstellungsgespräche dieser Art war ich nicht mehr eingestellt.

Ich atmete tief durch, um meine innere Unruhe zu bekämpfen. Ein Job. Nach Jahren wieder eine Chance. Ich trat ein. Ein großer runder Tisch stand in dem Raum. Ich hatte eine Gruppe dieser herausgeputzten Lackaffen erwartet. Doch da saßen nur drei Männer am Tisch, die das genaue Gegenteil meiner gestrigen Besucher waren. In der Mitte rang ein junger Mann nervös mit den Händen. Er war dünn und blass, mit strähnigen dunklen Haaren. Seine Augen zuckten, als er flüchtig zu mir aufsah. Der Kerl rechts hatte graues Haar und die Falten in seinem Gesicht verrieten sein fortgeschrittenes Alter. Er blickte mich offen an und nickte mir freundlich zu. Ganz links saß ein weiterer Typ, der schätzungsweise etwas älter als ich war. Kurzer militärischer Haarschnitt. Er hatte die muskulösen Arme vor der Brust verschränkt und sich entspannt zurückgelehnt. Seine Augen musterten mich abschätzig. Ansonsten konnte ich keine Regung in seinem Gesicht erkennen. Er war mir auf Anhieb unsympathisch und ich versuchte, ihn zu ignorieren.

Ich setzte mich auf die rechte Seite des Tisches, ließ allerdings zwei Stühle zwischen mir und dem Grauhaarigen frei. Der Jungspund in der Mitte begann, an den Nägeln zu kauen. Das Schweigen wurde unbehaglich. Ich wollte schon den Mund aufmachen, um irgendetwas zu sagen, als die Tür aufschwang. Ein junger Mann im Anzug, gepflegt und mit wichtigtuerischer Miene, trat ein. Er grüßte betont freundlich, stellte sich als Mike Miller vor und setzte sich links von mir an die unbesetzte Seite des Tisches. Mit einer raschen Handbewegung fuhr er sich durch das strohblonde Haar.

Ich musste bei dem Namen ein Grinsen unterdrücken, da ich ihn genauso wie seine Haarfarbe nicht für echt hielt. Was genau lief hier ab?

»Schön. Wie ich sehe, sind alle erschienen. Nun, dann kann es ja losgehen.«

Der Blonde legte ein Tablet vor sich hin und einen kleinen silbernen Würfel mitten auf den Tisch. Seine Finger wischten auf dem Display des Pads herum. Das hatte zur Folge, dass aus dem Würfel einige dünne Lichtstrahlen schossen. Sie formten sich über dem Tisch zu einem dreidimensionalen Modell des Kolosses. Ich glaubte, dass mir ein leises genervtes Stöhnen entwich, denn alle blickten mich plötzlich an. Dann wurde ihre Aufmerksamkeit wieder von dem quaderförmigen, irgendwie unspektakulären Metallkasten in Beschlag genommen. Die Außenhaut war mit vielen kleinen Details übersät und wirkte auf den ersten Blick wie die aufgedampfte Schaltung einer Platine. Keine Spur von Aerodynamik. Doch das war im Vakuum des Alls auch nicht nötig, hatte ich mich einst belehren lassen. An einer der schmalen Seiten erkannte ich verschiedene Öffnungen. Damals wurde vermutet, dass es Austrittsdüsen eines Antriebssystems wären, aber nähere Details darüber konnten zu jener Zeit nicht erforscht werden.

»Sie alle kennen ja dieses Ding.«

Der Jungspund nickte und sein rechtes Auge zuckte. Ich stützte wie ein gelangweiltes Schulkind den Kopf auf die Hand. Das hätte ich mir auch schon gestern denken können. Diese ganze geheimnisvolle Aktion musste ja mit dem Koloss zusammenhängen. Welche Befähigung hätte ich sonst vorzuweisen gehabt? Der Kopfschmerz breitete sich abermals aus und meine linke Hand suchte in der Jackentasche nach Linderung, fand etwas und warf es in den Mund.

»Wasser?« Der blonde Anzugträger lächelte freundlich, schüttete Flüssigkeit in ein Glas und schob es mir über den Tisch. Kurz streifte mein Blick das Gesicht des Muskelmanns gegenüber und es schien mir, als ob seine Mundwinkel leicht nach oben zuckten. Unbehagen durchfuhr mich, irgendwie war es mir plötzlich peinlich. Ich versuchte, es mir nicht anmerken zu lassen, nahm das Glas wie selbstverständlich in die Hand und spülte die Pillen hinunter.

»Nun gut«, fuhr Miller fort. »Als das Ding vor neun Jahren hier aufgetaucht war, hatte es die Weltöffentlichkeit in seinen Bann geschlagen. Eine Invasion von außerirdischen Lebensformen wurde befürchtet. Doch wie wir alle wissen, passierte ...« Er blickte theatralisch in die Runde. »... nichts.« Dabei untermalte er das Wort mit einer Geste seiner Hände, die mich irgendwie an einen Wanderprediger erinnerte.

»Fünf Jahre lang versuchten Politiker – mit wem auch immer – Kontakt aufzunehmen. Vergebens. Null Reaktion. Man hatte den Koloss zwar kontinuierlich nach dem neuesten Stand der Technik untersucht, durchleuchtet und mit allen zur Verfügung stehenden Methoden analysiert, doch er gab sein Geheimnis nicht preis. Etwas Radioaktives musste im Inneren sein und erdähnliche Atmosphäre schien er auch zu beinhalten. Allerdings regte sich der Widerstand einiger Organisationen, die das Geld lieber in irdische Projekte fließen sehen wollten, als in die für sie sinnlose Untersuchung eines Metallklotzes, von dem augenscheinlich weder eine Gefahr ausging noch irgendein Gewinn damit zu erzielen war. So wurden die Forschungen nach und nach eingestellt. Zwar schmiedeten verschiedene Organisationen immer wieder Pläne, dort einzudringen, aber letztendlich wollte keiner die Verantwortung und vor allem nicht die Kosten für ein derartiges Unternehmen tragen. Nun ja, und seit einigen Jahren interessiert sich niemand mehr für den Koloss. Er kreist einfach um die Erde, als wäre er ein kleiner Mond und als wäre es ganz natürlich, dass er da ist.«

Er machte erneut eine Pause und beobachtete uns vier Gestalten der Reihe nach. Ich grübelte, was er denn nun eigentlich wollte, das alles war nichts Neues für mich. Schließlich war ich einmal die Hauptberichterstatterin für dieses Ding gewesen, als die Menschheit sich noch dafür interessierte.

»Um es kurz zu machen: Conny Industries hat die Verwertungsrechte an dem Koloss erworben. Wir planen, dort einzudringen und die Technologie, oder was auch immer wir finden, sicherzustellen und für die Konzernzwecke zu verwerten.«

Ich runzelte die Stirn. »Und welche Rolle spielen wir in dem Plan?«

»Nun, Sie sind das Team, das dort eindringt.« Miller grinste.

Ich lachte laut auf. Das Daph hatte meine Hemmungen erfolgreich unterdrückt. »Wir? ... und welche Armee?«

»Nur Sie vier.«

Ich blickte ungläubig die drei Wracks an, die mit mir am Tisch saßen. Der Junge nagte an seinen Fingernägeln. Der alte Mann lächelte vor sich hin und das Muskelpaket saß weiterhin ungerührt mit verschränkten Armen da.

»Sie alle haben spezielle Fähigkeiten, die wir nutzen werden.«

Ich hob überrascht die Augenbrauen. Welche hochtrabenden Qualifikationen mochten das sein? Niemand antwortete darauf. Es war so still in dem Raum, dass ich meinte, eine Uhr ticken zu hören, die es gar nicht gab. Vielleicht waren das die Nebenwirkungen des Daphs. Keine Ahnung. Schließlich regte sich der Jungspund.

»Aber was ist, wenn da eine Armee blutrünstiger Aliens auf uns lauert?« Das Gesicht des Jungen sah zunehmend blasser aus. Mit den eingefallenen Augen wirkte er selbst schon wie ein Alien auf mich.

»Das ist, unserer Meinung nach, nicht zu befürchten. Seit neun Jahren ist da nichts herausgekommen. Wieso also jetzt? Wenn da tatsächlich fremde Wesen drin waren, sind sie wahrscheinlich längst tot.« Der strohblonde Anzugträger blickte in die Runde. »Und falls da trotzdem etwas lauert, ist dafür Xell Verhoeven zuständig. Er hat Kampferfahrung und – durch gewisse Implantate – besondere Fähigkeiten.«

Ich stierte den Muskelmann entgeistert an. »Ein Cyborg?«, entwich es mir.

Der Blick des Mannes am hinteren Tischende änderte sich schlagartig. Seine Augen wurden zu Schlitzen, die mich fixierten, ohne zu blinzeln. Offensichtlich hatte er nicht die Fähigkeit, mit Blicken zu töten, sonst wäre ich jetzt vermutlich nicht mehr am Leben gewesen. Doch er schien zu menschlichen Regungen fähig. Sollte mich das jetzt beruhigen oder eher beunruhigen?

Miller lächelte amüsiert. »Nun, Xell kann mit seinem linken Auge Dinge heranzoomen und im Infrarotbereich sehen. Auch sein linker Arm ist stärker und schneller in der Reaktion als bei einem gewöhnlichen Menschen. Es gibt wahrscheinlich noch ein paar weitere kleinere Modifikationen. Über alles bin ich da jetzt auch nicht informiert. – Wollen Sie etwas dazu sagen, Xell?«

Der Angesprochene reagierte nicht auf die Frage, sondern fixierte mich weiterhin mit seinem Blick. Es begann, mich nervös und wütend zu machen. Was bildete sich der Typ ein?

»Offensichtlich ist er der Sprache nicht mächtig«, stichelte ich. »Hat er auch einen Röntgenblick? Oder was glotzt er mich so an?«

Der Anzugträger stand auf und breitete die Arme aus wie ein Priester. »Freunde. Gewöhnen Sie sich aneinander. Sie sollen im Team arbeiten.«

Ich stand ebenfalls auf und stützte die Hände auf den Tisch. »Was ist, wenn wir gar nicht mitmachen wollen – bei diesem Plan?«

Mike Millers freundlicher Gesichtsausdruck wechselte so schlagartig, dass mir der Gedanke kam, ich hätte einen Schalter betätigt. Im Inneren erschrak ich, versuchte aber, es krampfhaft zu verbergen. Nichts an ihm wirkte noch menschlich. Sein Blick war kalt und niederschmetternd.

»Sie haben überhaupt keine Wahl. Jeder von Ihnen ist ein Wrack, ein Nichts. Diese Aufgabe ist Ihre einzige Eintrittskarte zurück in die Gesellschaft. Wenn einer von Ihnen meint, er könne das ablehnen – bitte, soll er gehen. Aber wohin? In was für ein beschissenes Leben?«

Ich ließ mich in Zeitlupe auf meinen Stuhl zurücksinken. Der Typ hatte mir nun wirklich einen Schlag versetzt. Musste er es so direkt aussprechen?

»Nehmen wir gleich mal hier unsere kleine Journalistin. Dysti Adams. Keine Aufträge. Kein Sender will sie haben. Unkooperativ, drogensüchtig ...« An dieser Stelle wollte ich protestieren, doch Millers Blick ließ mich in meinem Stuhl zu einem Häufchen Elend schrumpfen, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. »Ihre einzige Möglichkeit, wieder einen vernünftigen Job zu bekommen, ist, sich hier zu profilieren.«

Ich starrte auf die Tischplatte und rang mit mir. Ich wollte den Blicken der anderen ausweichen. Aber hier gab es nichts, hinter dem ich mich hätte verstecken können. Also warf ich trotzig den Kopf zurück. Mein Blick begegnete wieder dem des Muskelpaketes von gegenüber – Xell Verhoeven, ein Cyborg. Doch diesmal las ich fast schon Mitleid in ihm und das machte mich noch wütender.

»Unser guter Xell«, fuhr Miller fort, »hat auch keine Wahl. Im Kampfeinsatz schwer verwundet, hat ihm Conny Industries neue Körperteile geschenkt. Aber wie dankt er es? Er hat tatsächlich mit Terroristen verhandelt, obwohl er sie eliminieren sollte. Conny Industries lässt sich allerdings nicht von solchen Leuten erpressen. Und schon gar nicht, wenn es um mehrere Millionen geht. Nach dieser Aktion wurde er wie eine veraltete Waffe ausgemustert. Was er im Grunde ja auch ist.«

Wow, das musste gesessen haben. Ich schickte ein dezentes, aber schadenfrohes Grinsen über den Tisch. Xell zeigte keinerlei Reaktion.

Miller schien diesen Teil der Besprechung richtig zu genießen. Er konnte seine Macht und Überlegenheit ausspielen. Ich begann, ihn zu hassen. Er trat gerade nach vier Menschen, die sowieso schon am Boden lagen, und lächelte dabei.

Viel besser war ich in dem Moment allerdings selbst nicht. Ich konnte mir die Schadenfreude gegenüber diesem Xell nicht verkneifen. Schon das Wort Cyborg ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken gleiten. Den Grund hätte ich nicht in Worte fassen können. Es war eigentlich nur eine vorurteilsbegründete innere Abneigung. Das Wort suggerierte mir, dass dies kein richtiger Mensch war, sondern irgendwas zwischen Mensch und Maschine, irgendetwas Unnatürliches.

»Der Dritte im Bund ist unser ehemaliger Spacepilot Ben Sanders.«

Ich sah, wie der alte Mann weiterhin freundlich Mike Miller anblickte. Bei dem Namen geisterten mir jedoch sofort einige Meldungen über einen verheerenden Unfall im Kopf herum.

»Ben hat die geringste Wahl«, grinste Miller. »Er ist schon weit über sechzig Jahre und, wenn er den Rest seines beschissenen kleinen Lebens nicht auch noch hinter Gittern verbringen will, hat er nur diese eine Chance. Er wird Ihr Pilot sein und Sie – hoffentlich – sicher zum Koloss bringen. Vor einigen Jahren hat er mit seinem Shuttle im Suff das Spacehotel Earthview gerammt. Fast fünfzig Menschen aus dem Hotel und dem Shuttle fanden damals den Tod. Er würde eigentlich das Gefängnis nie wieder verlassen. Doch Conny Industries hat Begnadigung für ihn erwirkt, wenn er sich für dieses Unternehmen freiwillig zur Verfügung stellt.«

Wie beruhigend, dachte ich, und der fliegt uns hoch?

»Der Vierte Ihres Teams wäre dann Chuck Risk. Unser Computerspezialist. Nur leider setzte er einige Hundert Millionen des Konzerns in den Sand. Seitdem lebt er mehr schlecht als recht von kleinen Hackerjobs. Conny Industries will ihm eine zweite Chance geben. Wenn er den Job hier gut macht, kann er zurückkommen und seine Schulden abarbeiten. Er wird sich in das System des Kolosses einhacken und Informationen über seine Technologie sicherstellen.«

Mittlerweile fand ich Millers Grinsen unerträglich, und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und ihm eine runterzuhauen. Er war ein Arschloch. Daran bestand kein Zweifel.

»So, ich denke, die Vorstellungsrunde ist beendet. Ich werde mich jetzt empfehlen. Beschnuppern Sie sich ein bisschen. Man wird Ihnen Ausrüstung, entsprechende Kleidung und Schlafgelegenheiten zuweisen. In wenigen Tagen geht die Reise los.«

Miller erhob sich und packte sein Tablet und den Würfel ein. An der Tür drehte er sich noch einmal um.

»Ich lasse Ihnen ein paar Köstlichkeiten bringen, zur Feier des Tages und Ihrer neuen Leben.«

»Oh, wie nett«, murmelte ich missmutig.

Der Anzugträger wandte mir das Gesicht zu. »Ich vergaß: Wenn einer von Ihnen abspringt, fällt die Mission für alle aus, und jedweder Deal ist geplatzt. Also, Sie sind ein Team. Wie ich schon erwähnte.« Die Tür fiel ins Schloss.

Frustriert schlug ich mit der Faust auf den Tisch. »Wenn ich abspringe, bin ich also schuld, dass der Herr Pilot für den Rest seines Lebens weiter hinter Gitter muss? Na, super. Und was ist mit Ihnen?« Ich blickte diesen Cyborg-Xell herausfordernd an. »Verweigern die Ihnen dann die Ersatzteile?«

Der Muskelmann stand auf. Er hatte eine imposante Größe. Ich bereute kurz meinen Kommentar.

»Mm. Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich bleibe also besser dabei.« Zum ersten Mal sah ich ein richtiges Lächeln über sein Gesicht huschen.

»Oh, es gibt also doch ein Sprachmodul«, knurrte ich.

Sein Blick saugte sich drohend in meinen Augen fest. »Ich frage mich«, begann er mit ruhiger Stimme, »ob der Deal bestehen bleibt, auch wenn nicht alle zurückkommen?«

»Soll das eine Drohung sein?« Ich verdrehte die Augen. Das Daph tat gute Arbeit, aber irgendwo in meinem Hinterkopf flüsterte mir eine Stimme zu, dass ich besser mal den Mund halten sollte. Mahnte mich mein ganz kleiner vernunftorientierter Selbsterhaltungstrieb?

Als hätte er meine Gedanken lesen können, mischte sich Ben in das Gespräch ein. »Möglicherweise könnte die Frau Journalistin eine kurze Pause einlegen? Es bringt gar nichts, wenn wir uns hier streiten. Entweder entschließen wir uns, das gemeinsam durchzuziehen oder nicht. Auf mich muss keiner Rücksicht nehmen.«

»Ich mache das auf jeden Fall.« Chucks Stimme hatte etwas Verlorenes. »Ich brauche mein Leben zurück. Mann, ich bin noch jung. Ich will so nicht weitermachen.«

Was sollte das denn schon wieder heißen? War ich vielleicht alt? Ich sah mir die drei traurigen Gestalten an, und mir wurde bewusst, dass ich eine genauso tragische Figur war. Was hatte ich also zu verlieren? Wie der Typ schon sagte, war unser aller Leben sowieso verkorkst. Ich vegetierte nur ziellos dahin.

»Okay, Leute. An mir soll’s nicht liegen. Schauen wir uns diesen Koloss eben mal aus der Nähe an«, lenkte ich ein.

 

 

2.

 

Wenig später hatte man uns vier in ein Appartement mit eigenen Zimmern und einem gemeinsamen Wohn- und Essbereich geleitet. Bevor ich mich jedoch genauer umsehen konnte, kam das von Miller in Aussicht gestellte Essen. Kein Luxusbüfett, doch auf einem Niveau, von dem ich in letzter Zeit nicht einmal mehr geträumt hatte. So, wie die anderen das Zeug verschlangen, erging es ihnen offensichtlich ähnlich. Selbst der Cyborg langte kräftig zu und ich wunderte mich über meine eigenen bizarren Vorstellungen. Ich hatte angenommen, dass er kein normales Essen benötigen würde, sondern eine Art Maschinenöl oder etwas Vergleichbares. Bei diesem Bild musste ich unwillkürlich lachen.

»Was ist los, Miss Junkie? Verträgt sich der Wein nicht mit den Pillen?«

Xells Stimme riss mich aus meinen Gedanken und ich bemerkte, dass ich ihn angestarrt hatte. Ich versuchte, den peinlichen Moment zu überspielen, und zuckte mit den Schultern. »Ich würde an Ihrer Stelle den Mund nicht so voll nehmen, Cyborg. Sonst brennt Ihnen vielleicht noch ein Schaltkreis durch.«

Xell prostete mir zu. »Möglich. Also bleiben Sie besser auf Abstand.«

Nach dem Essen bezogen wir unsere versprochenen Schlafgelegenheiten. Mein Zimmer war nicht mit meiner derzeitigen Wohnsituation zu vergleichen. Ich erhielt einen sauberen kleinen Raum mit Südseemotiv auf dem gewaltigen, das Fenster simulierenden Flatscreen. Der einzige Haken war, dass ich mir ein Bad mit Xell teilen musste.

Als ich am späten Abend noch einmal hineinwollte, lauschte ich an der Tür, um zu überprüfen, ob er gerade drinnen war. Doch ich hörte nichts. Also drückte ich die Tür langsam auf. Es war Licht in dem Raum und ich hielt in meiner Bewegung inne. Mein Blick fiel durch den Spalt der Tür auf den Spiegel. Xell stand davor und ließ ein kleines Gerät über seinen linken Arm gleiten.

Meine Aufmerksamkeit galt allerdings seinem entblößten Oberkörper. Der war ein echter Hingucker, das konnte ich nicht leugnen. Nichts deutete darauf hin, dass er ein Cyborg war, eine Maschine oder etwas Ähnliches. Ich hatte mir vorgestellt, dass irgendwelche Kabel oder Geräte an ihm sichtbar sein müssten. Er sah jedoch aus wie ein gewöhnlicher Mensch. Okay, nicht wirklich gewöhnlich, das musste ich zugeben, denn seine Muskeln waren durchaus beeindruckend. Um das linke Schulterblatt zog sich eine dünne Narbe. Wahrscheinlich war sie der Hinweis auf seine Modifikationen.

Irgendwie empfand ich plötzlich Mitleid mit ihm. Was bedeutete es schon, ein Cyborg zu sein? Fast jeder dritte Mensch war heutzutage einer, je nachdem, wie man das Wort definierte. Selbst ein simpler Herzschrittmacher machte einen im Grunde dazu. Denn der Begriff hatte keine andere Bedeutung, als einen Menschen zu benennen, der durch irgendeine Art von Maschine modifiziert worden war. Künstliche Gliedmaßen waren nichts Besonderes mehr. Ich fand nur die Vorstellung abstoßend, dass nicht die Erhaltung der Mobilität und Lebensqualität im Vordergrund stand, sondern die technische Aufrüstung, um einen Supermenschen, oder schlimmer noch, einen Supersoldaten wie Xell zu erschaffen. Das schreckte mich ab.

Als ich ihn so ansah, tat er mir wirklich leid, denn im Grunde war er nur ein Krüppel, der mit künstlichen Körperteilen geflickt worden war. Bedauernswert ... aber er war auch in höchstem Maße anziehend. Mein Blick glitt über seine Arme, den Rücken ... und im Spiegel über sein Gesicht, zu der Narbe auf der linken Wange bis zu seinen Augen, die mich jetzt anstarrten.

Erschrocken zog ich hastig die Tür zu und lehnte mich peinlich berührt gegen die Wand. »Scheiße.« Ich kicherte leise wie ein Teenager.

Die Tür ging auf und Xell schob den Kopf zu mir herein. »Habe nur meine Systeme gecheckt. Ist Vorschrift bei Robotern vor dem Kampfeinsatz.« Er blickte mich eine Weile düster an, dann verschwand er.

Das Adrenalin schoss mir durch den Körper und das Blut in den Kopf. Ich war sicher rot geworden und wünschte mir, es möge sich ein Loch im Boden auftun, in dem ich verschwinden könnte. Doch da das nicht geschah, würde ich ihm in Kürze wieder begegnen müssen. So ein Mist. Verzweifelt kramte ich nach einem Stückchen Würde, das ich mir überstülpen konnte.

 

Am nächsten Morgen achtete ich peinlich genau darauf, dass die beiden Türen zum Bad gut verschlossen waren, bevor ich es wagte, unter die Dusche zu schlüpfen. Wobei dieses einfache Verriegelungssystem sicher kein ernsthaftes Hindernis für ihn darstellte. Aber er ließ mich unbehelligt.

Ich warf mir eine Ladung Daph ein und fühlte mich gleich in gehobener Stimmung. Die Wände des Appartements färbten sich vor meinen Augen in pastellfarbenen Tönen und meine Füße schienen kaum den Boden zu berühren. Beim Frühstück und den weiteren Vorbereitungen würdigte Xell mich keines Blickes und ich war mir nicht sicher, ob ich darüber glücklich sein sollte. Denn ich konnte mich nicht erwehren, ihn des Öfteren von der Seite zu mustern. Möglichst unauffällig, wie ich hoffte.

Schließlich bekamen wir unsere Ausrüstung: Schwarze Kampfanzüge, verschiedenen Kram, mit dem ich nicht viel anfangen konnte, und Xell erhielt eine Waffe.

Er blickte finster drein, untersuchte das Zeug und war sichtlich verärgert. Als er uns vier unter uns wähnte, verkündete er: »Ich will euch nicht beunruhigen, aber der ganze Kram ist Schrott. Die Anzüge sind sinnlos. Sie haben nicht einmal eine beschusshemmende Verstärkung. Gegen was soll das schützen?«

Ehrlich gesagt war mir das gerade völlig egal. Was hatte ich mit Kampfanzügen am Hut? »Vielleicht absorbieren sie Alienschleim.« Ich kicherte albern.

»Ich finde das schon irgendwie beunruhigend.« Chuck zuckte nervös mit den Augen. »Wenn wir beschossen werden, geht das einfach durch den Anzug hindurch?«

»So ist es.«

»Ich schätze, wir haben kein Reklamationsrecht«, meinte Ben lakonisch.

»Wahrscheinlich nicht.« Xell steuerte abrupt auf mich zu und zischte mir ins Ohr: »Hör mal, wenn du irgendeinen von uns oder die ganze verfluchte Mission in Gefahr bringst, weil du meinst, dich mit irgendwelchem Scheiß zukiffen zu müssen, kannst du Gift drauf nehmen, dass ich die Schrottwaffe an dir teste. Ist mir scheißegal, ob du eine Frau bist.« Er blickte mich nicht an, ließ aber irgendwas an der Waffe geräuschvoll einrasten.

Mir stellten sich die Nackenhaare auf und meine Atemfrequenz stieg an. Ich wusste selbst nicht, warum ich heute diese Pillen geschluckt hatte, denn der Kopfschmerz war nicht aufgetreten. Mein Hochgefühl war nun mit einem Mal wie weggeblasen. Fast so, als hätte mich jemand unter eine kalte Dusche gestellt. Ich versuchte ein spöttisches Lächeln und hoffte, dass es nicht meine Verlegenheit widerspiegelte.

 

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